Institut für Betrachtung
Barbara Buchmaier & Hans-Jürgen Hafner
Hallo, Museum
Beim Vorhaben eine Rezension über die revisionistisch angelegte, im Zuge des größer angelegten Projektes "Museum Global" organisierte Ausstellung "Hello World" im Hamburger Bahnhof zu Berlin zu schreiben, kamen Barbara Buchmaier und Hans-Jürgen Hafner – was angesichts sowohl des Themas und als auch des Ortes wenig überrascht – von Hölzchen auf Stöckchen. Und fabrizierten letztlich um die Ausstellungsbesprechung im eigentlichen Sinne herum einen Essay, in dem einige dringliche Fragen, die sich im Zuge ihrer Beschäftitung mit "Hello World" stellten – über den Kunst- und Museumsbetrieb unter postdemokratischen, globalisierten Prämissen, die Notwendigkeit, aber auch die Fallstricke kunst- und museumsgeschichtlicher Revision, über Machtverhältnisse und Vermittlungsfragen im allgemeinen oder identitätspolitische und postkoloniale Diskursen im besonderen –, behandelt werden. Schließlich geht es ja, wie wir wissen, ums Ganze.
„Museum Global“ heißt ein von der Kulturstiftung des Bundes initiiertes Forschungs- und Ausstellungsprojekt. Für Globalisierungsskeptiker müsste dieser Titel wie eine Drohung klingen. Doch keine Angst. Wer denkt, die Kulturstiftung hätte unter ihrer Leiterin Hortensia Völckers einen Masterplan zur Zukunft des Museums auf globaler Ebene, dafür unter deutscher Flagge erarbeitet, würde in die Irre laufen. Hier wird nicht der internationale Siegeszug des Museums als Paradeinstitution einer Globalisierung behauptet, die sich über politische Grenzen und kulturelle Differenzen hinweg vor allem im Ökonomischen realisiert. Vielmehr will das Projekt „Museum Global“ laut Selbstbeschreibung nicht mehr und nicht weniger als „Sammlungen des 20. Jahrhunderts“ – bei denen es sich allerdings allesamt, und ohne das eigens zu benennen, um Kunstsammlungen in Deutschland handelt – in eine „globale Perspektive“ rücken. Das klingt beinahe zu naheliegend, wäre – wenn das innerhalb dieser Sammlungen bisher noch nicht geschehen sein sollte – schlichtweg überfällig, wie die Diskussionen um die Programmatik des Humboldt-Forums oder die unnötig verschleppte Debatte um die Restitution widerrechtlich angeeigneter Kulturgüter zeigen.
Spätestens seitdem die vormals ‚moderne‘ Kunst in der Ära des Zeitgenössischen angekommen und damit wie die Moderne zu einer historischen Epoche geworden ist, ist, wenn nicht die Kunst selbst, so doch zumindest ihr Betrieb ein globaler geworden. Ein Blick in die Runde genügt. Auch und gerade Feudalstaaten und Diktaturen von der so genannten ersten bis zur dritten Welt kommen heute nicht mehr ohne Museum, Biennale oder Kunstmesse für zeitgenössische Kunst aus, im Idealfall im Kombipaket. Prominent eröffnete kürzlich der Louvre eine Zweigstelle in Abu Dhabi, um, so der selbst gewählte Auftrag, die Menschheit in neuem Licht zu zeigen. Zugleich scheint es mit Blick auf aktuelle kuratorische und kunsttheoretische Projekte genauso wie auf die Kunstkritik, dass keiner mehr so recht wüsste oder wissen wollte, was der eigentliche Gegenstand jenes Kunst-‚Betriebs‘ ist. Weswegen man es sich, mit dem US-amerikanischen Kunsthistoriker David Joselit, leicht machen könnte. Er sieht die Kunst als Zone der Aufmerksamkeitsregulierung vollends in ihrem Betrieb aufgehoben. Wir meinen die Frage, was Kunst denn nun eigentlich sei, ist dessen unter zeitgenössischen und globalen Bedingungen ausgesparter Fleck. Nebenbei: Die Parallele zur globalisierten Fußballindustrie ist kaum zu übersehen. Doch ist es durchaus eine Errungenschaft der Globalisierung – und bleibt zugleich nicht ohne Effekt auf die Kunst (und den Fußball) –, dass wir heute, zwischen Erleichterung und Beklemmung hin- und hergerissen, feststellen dürfen, wie wenig einerseits Demokratie und Kapitalismus miteinander zu tun haben und wie sehr andererseits Freiheit und Besitz aneinander gekoppelt erscheinen. Entsprechend reibungslos treffen im Raum einer Kunst, die unter den Vorzeichen des Zeitgenössischen und Globalen steht, und in Zeiten, in denen Besitz Freiheit garantiert, bedeutende Künstler auf kunstsinnige Oligarchen, treffen Museumsdirektoren auf der Suche nach Projektfinanzierung auf investitionswillige Steuersünder, reichen sich Philanthropen und Diktatoren geschäftstüchtig die Hand.
In der angelsächsischen Welt hieß der Kunstbetrieb auch vor der Globalisierung schon art world. Für sensiblere Ohren mochte das zwar nach Imperialismus klingen, doch konkret bedeutete diese Kunstwelt kaum mehr als die gut gefestigten ‚internationalen‘ Geschäftsbeziehungen, die zwischen drei, vier Straßenzügen Manhattans und dem Rest der Welt bestanden. Der Rest waren einige wenige Orte im alten Europa, in Norditalien, Westdeutschland, Paris oder der, sonst neutralen, Schweiz. Die als zweifaches Erbe der Moderne und des Liberalismus nach dem Ende des zweiten Weltkriegs etablierten Geschäftsbeziehungen regelten, was die gute Kunst, die richtige Kunstgeschichte, was das bessere, durch Kunst zu erreichende Leben, ja sogar, was die adäquate Kritik daran wäre – mit sanfter, definitorischer Gewalt. Zumal stimulierten diese Geschäftsbeziehungen das Erfolgsbegehren, bei diesem Spiel dabei zu sein. Das Versprechen reicht bis in heutige Tage. Das progressive Projekt der modernen Kunst wandelte sich darüber freilich in einen Progressivismus, dem im Glauben, dass das Neue immer schon richtig ist, Richtung und Verpflichtung abhanden gekommen sind – dafür sein ist alles. Gehen die Geschäfte gut, entscheiden sie über kommerziellen und künstlerischen Erfolg oder Misserfolg gleichermaßen, indem als künstlerisch cool und gültig gilt, was für den Markt ‚heiß‘ und profitabel zu werden verspricht und entsprechend Anerkennung innerhalb der art world findet, natürlich auch mit der Konsequenz der Schaffung und Anpassung an einheitliche Standards. First we take Manhattan! schrieb Leonhard Cohen 1986, dem Jahr, in dem Mikhail Gorbatschow „Glasnost“ ausrief. Die Geschäfte zwischen Manhattan und dem Rest der Welt entzünden und formatieren das affirmative Begehren, das Künstler, Sammler und die sonstigen Akteure innerhalb des Kunstbetriebs aufbringen, um Teil der seither tatsächlich globalisierten Kunstwelt zu sein. Die Effekte dieses Begehrens strahlen deshalb noch in die entferntesten Winkel jener Welt ab, die wir der Einfachheit halber Erde nennen. Nein, mit Imperialismus hat das Konzept der art world nichts zu tun. Hier wurde eingeübt, was Luc Boltanski und Eve Chiapello den „Neuen Geist des Kapitalismus“ genannt haben. Hier sind es keine bösen Imperialisten, die die Kunst auspressen. Wir selbst fügen uns immer und immer wieder die sanfte Gewalt zu, von der wir meist gar nicht wissen, dass wir sie produzieren, um selbst als ferne Augenzeugen noch dabei sein zu können in einer Kunstwelt, die längst Dependancen in Aserbaidschan, vermutlich mit Briefkästen in Zypern unterhält. Diese Gewalt wurde anderswo Neoliberalismus genannt. Sie nimmt niemanden aus, der dabei sein, und der dabei ‚wer‘ sein will. Der, kurz gesagt, halt auch sein Stück vom Kuchen abhaben möchte.
Nun also „Museum Global“, für das sich die Kulturstiftung des Bundes mit dem MMK Frankfurt, der Düsseldorfer Kunstsammlung NRW/K20, dem Lenbachhaus München und dem Hamburger Bahnhof in Berlin prominente Partner in der deutschen Museumslandschaft, gleichwohl keines auf dem Boden der ehemaligen DDR, gefunden hat. In Berlins „Museum für Gegenwart“ heißt die Antwort auf die globale Museumsinitiative schlicht „Hello World“. So nennt sich auch ein kleines Computerprogramm, das wie ein Baukasten in nuce auf die Syntax einer Programmiersprache im Großen und Ganzen verweist. Was schlicht klingt, kann sich also als veritables Großprojekt herausstellen. Und trotzdem ist man erst einmal erleichtert, wie launig dieses vielleicht staatstragendste der deutschen Kunstmuseen der großen Welt da draußen guten Tag sagt. Seinerseits nicht unproblematisch, ist das Haus ja nicht nur der zeitgenössischen Kunst verpflichtet, sondern gleich für die Gegenwart an und für sich zuständig. Was, speziell für ein Museum, per definitionem keine leichte Aufgabe ist. Umso besser, dass die Schwelle zwischen Welt und Museum hier niedrig gehalten wird. Und auch prima, dass deswegen nicht an Kompetenz gespart werden musste. Neben der geballten kuratorischen Kompetenz des Hauses unter Federführung des Impresarios der Staatlichen Museen, Udo Kittelmann, wurde gleich noch eine Reihe internationaler Gastkuratoren hinzugebucht. Und über die eigenen Bestände hinaus konnte – neben privaten und öffentlichen Leihgebern aus aller Welt, darunter selbstverständlich auch kommerzielle Galerien und (deren) Künstler – auf weitere Sammlungen der Staatlichen Museen Berlin und der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, etwa aus dem Ethnologischen Museum, dem Kupferstichkabinett und dem Museum für Asiatische Kunst zugegriffen werden – sowie auf die umfangreichen Archiv- und Bibliotheksbestände, die die Preußenstiftung zudem ihr eigen nennt. Laut Ausstellungsbroschüre sind es mehr als 200 Werke aus den Beständen der Nationalgalerie, etwa 150 Leihgaben aus weiteren Sammlungen der Staatlichen Museen zu Berlin und der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, außerdem 400 Kunstwerke, Zeitschriften und Dokumente aus nationalen und internationalen Sammlungen. Insgesamt sind mehr als 250 Künstler in der Ausstellung vertreten. Zumindest statistisch braucht man die globale Perspektive also nicht zu fürchten. Da kriegt die Welt schon mit, dass das Berliner Museum auch da ist. Gemessen an dem Aufwand hat die Kulturstiftung des Bundes – wie für die anderen drei Projekte auch – aber vergleichsweise nur bescheidene 800.000 Euro zugeschossen.
Nun ist „Hello World“, im Untertitel wie im ‚Klappentext‘, als „Revision einer Sammlung“ angekündigt. Will heißen, dass man dazu vielleicht nicht mehr Geld braucht. Denn die wiederholte kritische Überprüfung der Sammlung, sollte man meinen, gehöre ohnehin zu den Kernaufgaben eines Museums, sei eh immer schon die Pflicht jeder sammlungsorientierten Museumsarbeit. Hier wird aus einer ‚Pflicht‘ aber plötzlich die ‚Kür‘ – in Form einer Wechselausstellung. Die ist naturgemäß beschränkt. Vier Monate nur soll dauern, was den Anspruch hat, dennoch eine grundlegende Sammlungsrevision sein zu sollen. Lässt sich so ein Vorhaben wirklich so schnell abhaken, kann man da fragen, oder ob es sich hierbei vielleicht eher um ein öffentlichkeitswirksames ‚Greenwashing‘-Projekt handelt, wie man es aus den Marketingstrategien großer Konzerne kennt. Mancher erinnert sich vielleicht an den „Preis der Nationalgalerie“ vom letzten Jahr, an sich eine Prestigeveranstaltung im Portfolio des Hauses. Damals waren vier Künstlerinnen nominiert. Ein tolle Sache, angesichts der männlichen Dominanz auch im Kunstbetrieb. Noch besser, wenn die Herkunft dieser Künstlerinnen auch noch Internationalität anzeigt. Doch schoss die PR in Sachen Geschlecht und Herkunft derart über das Zielt hinaus, dass sogar die Künstlerinnen selbst sich in einem offenen Brief gegen die solchermaßen institutionell gestützte Instrumentalisierung ihrer „gender and nationalities“ verwehrten. Auch für Routiniers im Kunstbetrieb und akademischer Debatte ein Minenfeld, ist es eben nicht so einfach, sich auf den kompliziert miteinander verzahnten Terrains von Identitätspolitiken und postkolonialen Diskursen so zu platzieren, dass man, ohne hochzugehen, Schritt halten könnte mit den avancierten Institutionspolitiken, die man sie etwa aus Frankreich oder Großbritannien kennt. „Hello World“ könnte also dazugelernt haben.
Dreizehn unabhängig voneinander lesbare thematische Kapitel mit jeweils individueller Überschrift umfasst die Ausstellung. Ein symbolträchtig „Agora“ benanntes, vom Udo Kittelmann persönlich kuratiert, wurde als zentraler „Versammlungsort“ mit Kunst, die sich auf den so genannten öffentlichen Raum bezieht, in der Historischen Halle in Szene gesetzt – garniert mit verschiedenen Zitaten von Dichtern und Denkern gleichermaßen. Mit größerem Anspruch auf Information und Argument kommt dagegen ein kapitales, zielgruppenspezifisches Vermittlungsprogramm während der Laufzeit der Schau daher, während der über 400 Seiten starke Katalog dazu bis vor kurzem auf sich warten ließ. Man kann eben nicht alles schaffen, was übrigens für die Produzenten nicht anders gilt als für das Publikum, dem zumindest quantitativ – wie gesehen – lieber zu viel als zu wenig geboten wird. Entsprechend kurzatmig fielen die bisher zu lesenden Besprechungen des Projekts aus – was sich organisatorisch vielleicht schon bedenken ließe, wäre man interessiert, den museal angestoßenen Diskurs auch in die Öffentlichkeit, ins kulturelle Gespräch zu tragen.
Nein, „Hello World“ kann man selbst nicht auf die Dauer einer Wechselausstellung durchhalten. Das ist schade. Denn taktisch betrachtet sind Museumssammlungen an sich aufmerksamkeitsökonomisch nicht viel wert in Zeiten, in denen die Marketingabteilung und auch die wohlmeinenden Partner aus Politik und Wirtschaft ein gewichtiges Wort bei der Programmierung eines Hauses mitzureden haben. Ohne solche Partner lässt sich der Betrieb eines, wie es heißt, öffentlich finanzierten Hauses bekanntlich kaum mehr aufrechterhalten. Und da geht der glamouröse Event – etwa der besagte, jährlich vergebene „Preis der Freunde der Nationalgalerie“ – zwangsläufig über den Sammlungsparcours, der, wie man meinen könnte, einmal eingerichtet, schon aus Kostengründen ein paar Jahre halten sollte. Ein Projekt wie „Hello World“, das an sich die Struktur des Museumsbetriebs betreffen sollte, bleibt hier also ein ebenso kurzlebiges wie aufwändiges Exempel – tatsächlich nur ein Programmpunkt von vielen. Tausende Quadratmeter Ausstellungsfläche, hunderte von Exponaten, Kuratoren zum Dutzend, zudem externe Kompetenz wie Zdenka Badovinac, Direktorin der Moderna Galerija in Ljubljana, Clementine Déliss, ehemalige Leiterin des Frankfurter Weltkulturen Museums oder Azu Nwagbogu, Initiator einer Non Profit-Organisation für afrikanische Künstler in Lagos zugekauft, der ehemalige Leiter des Hamburger Bahnhof, Eugen Blume, reaktiviert. Was die „kritische Untersuchung der Sammlung der Nationalgalerie und ihrer vorwiegend westlichen Ausrichtung“ werden soll, wird nämlich von der traditionellen, musealen Kernfunktion entkoppelt zu einer Revision auf Zeit, die über die angesetzten vier Monate hinaus offenbar nicht langfristig das Profil des Museums und seine Praxis bestimmen soll. Auch wenn in der Broschüre die Frage aufgeworfen wird, „wie die Nationalgalerie die hier vorgestellten Entwürfe zum Umgang mit den Beständen künftig weiterentwickeln kann, um dem weltweiten künstlerischen Austausch in seiner Vielfalt wie in seiner Besonderheit im Einzelnen gerecht zu werden“, ist für die Besucher nirgends etwas davon zu erfahren, was die konkreten Vorstellungen der Akteure, die Perspektive des Direktors der Staatlichen Museen für eine künftige Museumsarbeit, vielleicht sogar die heimlich gehegten Wünsche oder alternative Visionen der Sammlungsleiter sind bzw. sein könnten.
Die Revision auf Zeit ist auch deshalb eine erstaunliche Entscheidung, weil Kritik an der Westfixierung der Kunst, ihres Markts und ihrer Institutionen schon länger Konjunktur hat. Nicht erst die letzte, von Adam Szymczyk kokett dezentral kuratierte Documenta oder die aktuelle Ausgabe der Berlin Biennale unter dem Motto „We Don’t Need Another Hero“ – allesamt von der Kulturstiftung des Bundes geförderte Prestigeprojekte – haben sich einen entsprechenden, formatbedingt notwendig temporären Perspektivwechsel auf die Fahnen geschrieben. Das Münchener Haus der Kunst hatte mit seiner grandiosen „Postwar“-Schau 2016 umfassend historisch und auf Basis fantastischer Leihgaben für eine globale Perspektive auf das ‚Narrativ Moderne‘ argumentiert und einen fundierten Katalog zum Thema eingebracht. Und selbstverständlich hat der internationale Kunsthandel längst gelernt, dass alte und neue Käuferschichten, die eben gern auch aus Regionen stammen, die dem Westen heute noch als ‚Peripherie‘ gelten, ihre Herkunft in einem global entsprechend breit gefächerten Kunstsortiment repräsentiert und dotiert sehen wollen. Letzteres lässt sich hervorragend anhand der sorgfältig ausgewiesenen Galerievertretungen zahlreicher Teilnehmer etwa der Berlin Biennale studieren, während sich die Ausstellung selbst regelrecht anti-institutionell und entsprechend aggressiv gegen Narrative, Wissensordnungen und Biografismen geriert. Dass die meisten vertretenen Galerien ihren Ursprung und Sitz in der alten art world haben, ist zwar ein anderes, aber keineswegs zu vernachlässigendes Kapitel. Jedenfalls sollte sich der Hamburger Bahnhof zu dieser Konjunktur verhalten. Man möchte sogar meinen, er sollte seine Position – eben gerade als öffentliches Museum – in diesem Zusammenhang erklären und institutionell geltend machen wollen.
Immerhin kann es gar nicht zu spät sein und auch nicht schlecht, wenn man hier nun in einer globalen Perspektive endlich „alternative und hybride Verständnisse von Kunstproduktion“ zeigen, „blinde Flecken in der Geschichtsschreibung sowie Konsequenzen des Kolonialismus“ untersuchen und außerdem Zusammenhänge herstellen will, „die ein Aufbrechen des westlichen Kanons vorantreiben.“ Dennoch sollten wir vorsichtiger sein als Wolfgang Ullrich mit seiner überschwänglichen Diagnose in der ZEIT vom 3. Mai dieses Jahres, mit „Hello World“ wäre die Entlarvung der „Ignoranz der vermeintlich Ersten Welt“, ja gar der Abschied vom Ethnozentrismus geglückt. Ignoranz ist in der Tat überall ein Problem. Speziell wenn sie in institutionalisierter Form, als Kanon, in Museen, durch Macht und Geld gestützt auftritt – und nicht selten mit dem Nebeneffekt, dass ersteres dem Erhalt des letzteren dient.
Nicht nur Kunsthistoriker wussten länger schon, dass die Geschichte der modernen Kunst und ihre Entwicklung zur zeitgenössischen weit komplexer erzählt werden kann – und auch muss – als die gerade in deutschen Kunstmuseen nach wie vor populäre Inszenierung einander ablösender und bevorzugt am Beispiel der Malerei durchdeklinierter „Ismen“ bis hin zum stilistisch, thematisch und nun auch territorial und preislich „entgrenzten“ Tohuwabohu, als das die heutige Kunst zwangsläufig jedem erscheinen muss, der ohne historisches Vorwissen oder besonders große Glaubens- oder Leidensfähigkeit mit ihr konfrontiert ist.
Es ist schließlich kein Geheimnis, wenngleich selten erfolgreich in der musealen Zeige- und Vermittlungspraxis etabliert, dass eine den künstlerisch-kulturellen Errungenschaften der Moderne adäquate Erzählung der Kunstgeschichte nicht ohne methodischen Seitenblick etwa auf die Geschichte des Kinos, der Fotografie, die Neubewertung der angewandten und populären Künste auskommen kann. Und es ist schon lang kein Expertenwissen mehr, dass der Prozess der Modernisierung – egal in welchem Feld – nicht linear entlang einer einzigen, allverbindlichen Zeitachse läuft, sondern verschiedene parallele Temporalitäten, territorial, gesellschaftlich und kulturell unterschiedliche und entsprechend oft widersprüchliche Dynamiken umfassen muss. Die kritische Auseinandersetzung mit dieser Problematik ist ein integraler Teil der Geschichte der Modernisierung selbst – ein Grund, warum wir die Institutionen, die aus dieser Geschichte hervorgegangen sind, einerseits durchaus auch als Errungenschaft wertschätzen, andererseits aber kritisch im Blick behalten sollten, wo es um den Umgang mit ihnen, ihre gesellschaftlichen Effekte geht.
„Hello World“ zeigt Revision stattdessen als Ausstellung. Das mag ein Stück weit die Methode erklären, die das Projekt dafür in Stellung bringt. Die Technik zur Revision findet es nämlich nicht in der (selbst-)kritischen Bestandsaufnahme und historischen Analyse. Lieber verfährt man häppchenweise, spekulativ und experimentell. Dafür folgt „Hello World“ dem Motto, was wäre, wenn ... „Wie sähe die Sammlung heute aus, hätte ein weltoffeneres Verständnis ihren Kunstbegriff und ihre Entstehung geprägt?”, so eine deutlich formulierte Kernfrage des Projekts. Und: „Wie würde sich eine Erweiterung und Vervielfältigung der Perspektiven auf den Kanon und die kunsthistorischen Narrative auswirken?” Diese Methode ließe sich als Technik künstlerischen/autorschaftlichen Kuratierens sicherlich produktiv machen und wird etwa in Clementine Déliss’ hervorzuhebendem Kapitel „Die tragbare Heimat. Vom Feld zur Fabrik“ gewinnbringend eingesetzt, wenn sie Heinrich Vogelers auch aufgrund ausgedehnter Reisen durch die ehemalige Sowjetunion sozialistisch inspirierte Malerei der 1920er-Jahre mit historischem armenischen Liedgut und verschiedenen, auch flucht- oder exilbedingt an verschiedenen Wirkungsorten entstandenen Publikationen armenisch-stämmiger Intellektueller kombiniert; wenn sie künstlerische Formen und kulturelle Inhalte somit konsequent migratorisch deutet und die Ausstellung als Ideenaggregat funktionalisiert wird. So ein Verfahren hat zu Recht exemplarischen Charakter, müsste aber auf seinen Ort in der musealen Praxis hin diskutiert werden. Ein Problem, das für viele dieser Kapitel im Einzelnen gilt, ursächlich aber in der Weigerung zu suchen ist, „Hello World“ syntaktisch zu organisieren. Diese Weigerung ist vom kuratorischen Gestus zahlreicher Großausstellungen bekannt – exemplarisch sei hier nochmals auf die letzte Documenta und vor allem die aktuelle Berlin Biennale verwiesen –, die vielleicht allzu pauschal, laut Klappentext, „Wissenssysteme“ als „starr“ und „historische Narrative“ als „standardisiert“ und deshalb Träger „toxischer subjektiver Sichtweisen“ verwirft. Es mag taktisch betrachtet angehen, temporäre, mit kurzfristig hoher Aufmerksamkeit ausgestattete Ausstellungsformate in diesem Sinne ‚aktivistisch‘ aufzuladen. Speziell die Berlin Biennale mit ihrer kuratorischen Politik der Negation könnte entsprechend auch als Echo auf den radikal unversöhnlichen Antinstitutionalismus gelesen werden, wie er im Diskursumfeld des Afropessimismus gepflegt wird. Spätestens hier würde man sich für ein Museum allerdings eine perspektivisch dezidiert argumentierte Positionierung als Institution wünschen, statt auf das Motto „Museum Global“ nur mit Quantität und Vielstimmigkeitsmimesis reagiert. Doch um herauszufinden, dass die Welt kompliziert ist, brauchen wir – kurz gesagt – nicht ins Museum zu gehen. Dort würden wir allerdings gerne von ihrer Komplexität erfahren und wie sich der Blick darauf gewinnen ließe.
Generell passt zur spekulativen Methode von „Hello World“, dass das zu revidierende Objekt – die Sammlung – ausschließlich als Effekt des Sammelns, als Ergebnis einer Anhäufung von Gesammeltem gezeigt wird. Und sogar dabei fehlt es am Willen zur Methode. Was, wann, warum ins Museum kam, und welchen Effekt das hatte? Weitgehend Fehlanzeige. Was am Anfang jeder Revision steht: also Liste, Verzeichnis oder Kartei, spart sich diese gleichwohl an jedem Ende überbordende Schau. Sie spart an dem, was zuerst einmal zu einem Überblick über das Eigene beitragen könnte. Am ‚Haben‘ bemisst sich das ‚Soll‘, aus der Verantwortung für ersteres erwächst der Auftrag gegenüber dem letzteren, mithin jener Welt samt all derjenigen Dinge, für die bislang die Aufmerksamkeit, der rechte sammlerische Sinn gefehlt haben mag. Doch ist hier noch längst kein Grund zur Entwarnung gegeben, wenn die Revision qua mangelhafter Durchführung den Blick auf das ideologische Wesen des Sammelns, die Gewalt der Bewertung und Zuordnung selbst noch verstellt. Die Institution an und für sich, der gesellschaftliche, politische und ökonomisch hinterlegte Apparat, der zur Sammlung erst ursächlich ermächtigt und ihre Ordnung grundlegt, der gerät gerade auch in seiner Historizität und gegenwärtigen gesellschaftlichen Funktion so gar nicht erst in den Blick. Ebenso wenig wie der Zusammenhang zwischen Sammlung, Institution und Kunst. Dass die Kunst heute ist, wie sie ist, beruht schließlich auf einer historischen Entwicklung, die maßgeblich von der ‚Institution‘ Museum im Spannungsfeld von Geld und Macht aber auch Wissen und Empowerment geprägt wurde. Die Perspektive wäre also schlichtweg umzudrehen. Müsste es statt „Hello World“ nicht zuallererst „Hallo, Museum“ heißen?
Um dann nochmals auf die Sammlung zu schauen ... George Grosz’ 1921 entstandener „Grauer Tag“ wurde zum Beispiel erst 1954, sein epochemachendes Bild „Stützen der Gesellschaft“ von 1926 gar erst 1958 für die Nationalgalerie (West) angekauft. 1959 verstarb der Vertreter eines Dadaismus, welcher erst im krisenhaften Berlin mit dem Ende des Ersten Weltkriegs seine Wendung ins Politische, ja Polit-Aktivistische nahm. Ludwig Justi, seit 1909 Direktor der Berlin Nationalgalerie und notorisch auf Kriegsfuß mit der kaiserlichen Kulturpolitik, hatte 1919 die „Neue Abteilung“ als erstes Museum für damals aktuelle und die heute kanonische ‚moderne‘ Kunst im Kronprinzenpalais begründet. Ein echter, wenngleich von langer Hand vorbereiteter Coup, der von der politisch und ökonomisch unsicheren Zeit zielsicher profitierte. Justis vielleicht in bürgerlichem Geiste ‚progressive‘ Ankaufspolitik bildete den Grundstock für die Sammlung moderner Kunst der Nationalgalerie, wurde zum Vorbild für das New Yorker MoMA. Werke etwa des Dadaismus aber auch der konstruktivistischen und abstrakten Kunst erwarb Justi nicht.
Ausschließlich auf Letzteres weist die Leiterin des Hamburger Bahnhofs, Gabriele Knapstein, im Begleittext zum von ihr kuratierten Kapitel „Plattformen der Avantgarde“ hin, das sich erfreulich unaufgeregt als museale Darstellung ernsthafter kunsthistorischer Forschung präsentiert. Darüber hinaus erfährt man hier von der 1923 in Tokio gegründeten, kurzlebigen Künstlerinitiative MAVO und ihren internationalen Verbindungen – auch und gerade nach Berlin. Hatte bereits 1914 eine erste „Sturm“-Ausstellung in Tokio stattgefunden, war einer der Initiatoren von MAVO, Tomoyoshi Murayama (1901–1977) während seines Studiums in Berlin 1922 gezielt mit Akteuren des auch politisch radikaleren Flügels der Berliner Avantgarde wie Grosz oder Alexander Archipenko und speziell mit der Szene rund um Herwarth Waldens „Sturm“-Galerie in Kontakt getreten. 1923 nach Japan zurückgekehrt, initiierte Murayama MAVO als losen Zusammenschluss japanischer Künstler, die sich ihrerseits der Avantgarde verpflichtet sahen und künstlerisch entsprechend transdisziplinär und politisch, ja, mit regelrecht revolutionärem Anspruch in den Feldern des Tanz und der Performance, in der Architektur und der Kunst aktiv waren. Über das gleichnamige Magazin führte Murayama Werke beispielsweise von Grosz und Kurt Schwitters für ein japanisches Publikum ein, während der MAVO-Kreis von Tokio aus zugleich in intensivem Austausch mit vergleichbaren Publikationsforen in West- und Osteuropa oder den USA stand.
Diese Beziehungen werden anhand eines Wanddiagramms mit Tokio als Zentrum avantgardistischer Publikationspolitik gut nachvollziehbar. In Vitrinen gezeigte Magazine sowie andere Publikationen der Zeit belegen den regen Austausch in Bild, Text und verschiedenen Sprachen und zeugen frappant vom „supranationalen Weltgefühl“ einer auch politisch progressiven, künstlerischen Avantgarde, welches Raimund Mayer schon 1994 anlässlich der einflussreichen Ausstellung „Dada Global“ im Kunsthaus Zürich am Beispiel des Dadaismus diagnostiziert hatte.
Es ist also kein neues, noch nicht einmal sonderlich entlegenes Wissen, das Knapstein im Rahmen ihrer dennoch mit sensationellen Leihgaben, Assemblagen Murayamas aus dem National Museum for Modern Art in Tokio sowie Arbeiten von Archipenko, Hannah Höch, Fernand Léger oder Kurt Schwitters aus dem Bestand der Nationalgalerie angereicherten Präsentation vorlegt. MAVO aber auch die Aneignung und produktive Ausdeutung von Dada und anderer Avantgardeströmungen durch japanische Künstler und Literaten sind spätestens seit den 1980er-Jahren Thema, nicht nur, kunsthistorischer Forschung.
Die Frage wäre nun: warum ist dieses Wissen dennoch nicht präsenter? Reicht es tatsächlich, die MAVO-Episode als interessanten Fund zu präsentieren, ohne ihn wenigstens heute kunst- und institutionsgeschichtlich sowie aus transkultureller Perspektive genauer unter die Lupe zu nehmen? Fände sich darin nicht auch ein geeignetes Beispiel mit Seitenblick auf alte und neue Ankaufspolitiken die langwierigen und oft ambivalenten Anerkennungsprozesse zu diskutieren, denen Kunst und Institutionen seit jeher unterworfen sind? Gäbe MAVO nicht auch ein interessantes Exempel ab, um die behauptete Dominanz westlicher Kunst historisch an ihren Auswirkungen auf die damals zeitgenössische japanische Gesellschaft und Kultur zur diskutieren? Was wäre es denn, was das Konzept der Avantgarde für japanische Kulturschaffende attraktiv gemacht hat und wie hat die dortige Öffentlichkeit darauf reagiert? Zu all diesen Fragen erfahren wir nichts. Käme dann aber die im begleitenden Blog zur Ausstellung geäußerte Klage Knapsteins nicht allzu wohlfeil daher, dass die „Konzentration auf eine Kunstgeschichte Europas und Nordamerikas (...) sowohl die transkulturellen Austauschbeziehungen und Wechselwirkungen wie die Entstehung moderner Kunst und alternativer Kunstbegriffe in anderen Regionen der Welt lange gar nicht oder entschieden zu wenig berücksichtigt“ habe. Führt sie nicht sogar insgesamt auf eine falsche Fährte?
Denn spätestens hier sind wir wieder beim technischen Grundproblem von „Hello World“ angekommen: wie sich das Projekt in all seiner Enormität zur tagtäglichen Museumsarbeit verhält, die die ‚Realität Museum’ produziert. In diesem Sinne würde Knapsteins Kapitel wenigstens die Outlines für solide Museumsarbeit abstecken, für die es tatsächlich nicht das Format einer großen Wechselausstellung bräuchte. Vielmehr belegt das Kapitel, dass die Arbeit an und mit der Sammlung einerseits tatsächlich immer schon auf das Prinzip der Revision gegründet ist. Und dass andererseits das Potenzial für Entdeckungen, neue Zusammenhänge und Komplexität in der Methode der Revision begründet liegt, womit sie auf die museale Kernkompetenz zurückführt. Doch das muss ein Museum wie der Hamburger Bahnhof verstehen, seine Aufgabe eben nicht als globales „Museum für Gegenwart“, sondern aus seiner Gegenwart als sehr weltliche ‚Institution Museum‘ wahrnehmen zu wollen. Dann wäre auch das im Verhältnis zu den hier sicher hohen Kosten doch recht wenige zugeschossene Geld der Bundeskulturstiftung besser angelegt.
Laufzeit der Ausstellung 28.04.–26.08.2018
Ausstellungsansicht „Hello World. Revision einer Sammlung“ / AgoraHamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin, 2018 © Nationalgalerie – Staatliche Museen zu Berlin / Thomas Bruns© VG Bild-Kunst, Bonn 2018