Institut für Betrachtung

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Wolfgang Brauneis

Das Werk des Henry Flynt. Nebengeräusche, Grauzonen und Randbereiche

Henry Flynt, Erfinder der Concept Art, Produzent von New American Ethnic Music und überzeugter Creep, gilt nicht ganz zu Unrecht als verschrobener Sonderling und wird demnach, anders als seine (wiederentdeckten) zeitweiligen Mitstreiter Tony Conrad und Jack Smith, sowohl von der kunstkritischen als auch -historischen Zunft - selbiges gilt für die Kolleg/innen aus der Abteilung Musik - regelmäßig und gerne übersehen. Seine erste institutionelle Einzelausstellung im Kunstverein Düsseldorf im Herbst 2012 (der, wie zu erwarten war, eine recht überschaubare Anzahl an Rezensionen gewidmet wurde) bot den Anlass für ein Porträt des großen Solitärs, Musikers, Künstlers, Philosophen, Soziologen, Politaktivisten und Mathematikers im Kunstteil der Musikzeitschrift Spex. To be continued.

Ihren Ohrenschützern nach zu urteilen war es ein recht kalter Tag im Februar 1963, als sich Henry Flynt und Tony Conrad gemeinsam mit Jack Smith vor dem Metropolitan Museum postierten. Drinnen gab es da Vincis Mona Lisa zu sehen, die den Louvre für das Gastspiel in New York verlassen durfte und einen außerordentlichen Besucherandrang verursachte. Die Fotografien von dieser Demonstration hätten als Ikonen des (inner)kulturbetrieblichen Protestes reüssieren können, wären die Transparente mit den deutlichen Forderungen („Demolish Art Museums!“, „Destroy Art!“) doch bloß von Kolleg_innen aus ihren Dunstkreisen getragen worden, von Yoko Ono zum Beispiel, Lou Reed oder La Monte Young – von Protagonist_innen also, die alsbald feste Bestandteile der kanonisierten Kunst- und/oder Musikgeschichte sein sollten und nicht das Los der drei Aktivisten teilten, ab den 1970er Jahren vorerst im Orkus der Geschichte zu verschwinden.
Sowohl Flynt als auch Conrad schufen ein umfangreiches musikalisches Werk. Erst in den letzten zehn, fünfzehn Jahren erschienen zahlreiche Schallplatten und CDs mit Schätzen aus ihren Archiven, die insbesondere all jene – im doppelten Sinne – aufhorchen ließen, deren Interesse dem künstlerischen Output im New York der 1960er Jahre gilt: Minimal Art/Music, Concept Art, Fluxus, Pop Art oder Expanded Cinema. Die Rezeption ihrer multidisziplinären Produktion erfolgte also zunächst vornehmlich in der Musikjournaille und im Tonträgerhandel. Der per se behäbigere Kunstbetrieb rückte einige Jahre später nach. Die „Early Minimalism“-Einspielungen von Tony Conrad auf Table of the Elements brachten ab Mitte der 1990er Jahre die bis dato fixierte Geschichte der Minimal Music nachhaltig ins Wanken. Bis zu seiner ersten Einzelausstellung in der Galerie Buchholz vergingen aber noch zehn weitere Jahre. Ähnlich lang war die Inkubationsphase bei Henry Flynt, dessen erste institutionelle Übersichtsschau ab Oktober im Düsseldorfer Kunstverein zu sehen sein wird. Den Gang in die weitgehend unbekannten musikalischen Archive jedoch unternahm bereits zu Beginn der 2000er Jahre Dawson Prater, der seitdem zahlreiche Releases von Flynt für sein Chicagoer Label Locust Music produziert hat.
Die Compilation „Raga Electric“ beinhaltet Solomaterial vor allem der 1960er Jahre, dem das Attribut "experimentell" nicht gerecht wird. Das transgressive „Free Alto“ von 1964 beispielweise, die einzige Saxophonaufnahme des gelernten Violinisten, verbindet weitaus mehr mit Jean Dubuffets offensiv dilettantischen „Expériences Musicales“ als mit dem, was in New York in Sachen Minimal Music oder Free Jazz auf der Tagesordnung stand. Das Coverfoto mit dem agitierenden Henry Flynt wurde am Tag nach besagter Demonstration im Loft des Künstlers Walter de Maria aufgenommen. Die Transparente des Fronteinsatzes dienten neben einem Porträt Vladimir Majakowskis nun als Setting für seinen Vortrag „From 'Culture' to Veramusement“. 1961 sorgte Flynt als einundzwanzigjähriger Jungspund mit seiner Definition einer auf Sprache als Arbeitsmaterial zu reduzierenden „Concept Art“ für eine der folgenschwersten kunsttheoretischen Zäsuren der (Nachkriegs-)Neoavantgarde. 1962 erklärte George Maciunas, nachhaltig von dem Ideengeber Flynt beeinflusst, die Fluxusfestspiele für eröffnet und im Zuge dessen die Grenzen zwischen Bildender Kunst und Musik, Konzept und Performance für überholt. Dass Henry Flynt dennoch in den Kunstgeschichtsbüchern nahezu keine Rolle spielt, mag vielerlei Gründe haben. Seine, vorsichtig formuliert, ausgeprägte Skepsis gegenüber Szenen, Strömungen oder Schulen ist gewiss einer davon.
 
Zu dem Rüstzeug, das Flynt benötigt, um (sub-)kulturelle Vereinbarungen auf ihre Ausschlussmechanismen hin zu überprüfen sowie Konventionen innerhalb des vermeintlich Unkonventionellen freizulegen, gehört eine eigene Begrifflichkeit. 1962 propagierte er in zwei Harvard-Vorträgen die zwingend notwendige Souveränität des Anderen, kulturell und gesellschaftlich Ausgeschlossenen. Zuerst brachte er dank seines Konzeptes der (später in „Veramusement“ bzw. „Brend“ mündenden) „Acognitive Culture“ die außerinstitutionelle Form des Entertainment gegen die objektivierenden Werte und repressiven Normen der „Serious Culture“ in Stellung, um im Anschluss daran das Hohelied auf den schwachen, gehemmten, unstylischen „Creep“ zu singen, den unter bürgerlichen Gesichtspunkten dysfunktionalen und unter kapitalistischen Verwertungszusammenhängen unbrauchbaren Sonderling. Gut zehn Jahre später sollte ein ähnlich gelagerter Begriff vom Fanzinetitel zur Kennzeichnung einer Bewegung mutieren: Punk.
Ebenfalls in Harvard lernte der Musiker/Künstler/Philosoph/Soziologe/Politaktivist/Mathematiker Flynt Ende der 1950er Jahre Tony Conrad kennen, der ihm, wie auch La Monte Young, eine seiner frühen Kompositionen („For my friend and teacher Henry Flynt“) widmete. Flynt war ein ausgewiesener Kenner klassischer und zeitgenössischer Musik und angehender, von John Cage geprägter Komponist. In der Phase seiner Politisierung, die sich explizit in der Auseinandersetzung mit dem Kulturbetrieb im Allgemeinen und der zeitgenössischen, nichtakademischen Musik im Besonderen abzeichnete, kam es jedoch zu einem radikalen Bruch mit der institutionalisierten Avantgarde. In dem Flugblatt „Communists must give revolutionary leadership in culture“ rief er 1965 als mittlerweile aktives Mitglied der marxistischen Workers World Party dazu auf, populäre afro-amerikanische Musik („Street negro music“) als zwingende Prämisse einer kommunistischen Revolution zu stärken. Im Jahr zuvor führte er die Proteste („Action against Cultural Imperialism“) anlässlich einer Aufführung von Karlheinz Stockhausens „Originale“ in New York an. Der „nationalistic megalomaniac“ (Maciunas) Stockhausen war für ihn nicht nur prominenter Vertreter der akademisch geschulten Avantgarde sondern auch Sprachrohr eines elitären, rassistisch unterfütterten Kunstbegriffs. Den Text des entsprechenden Flugblattes leiten Zitate aus einem Vortrag Stockhausens 1958 in Harvard ein, in dem die Vormachtstellung der europäischen Musik, auch und vor allem in Abgrenzung zum Jazz, eine zentrale Rolle spielt.
Das Gegengift gegen diese propagierte Überlegenheit bestand unter anderem aus der Idee des „Avant-Garde Hillbilly“, einer Verschmelzung akademischer mit nichtakademischer (Folk-)Musik, konträr zu den gängigen crossover-Entwürfen. Der Spieß wurde damit umgedreht, denn die „American Ethnic Music“ – Flynts Oberbegriff für Blues, Folk, Jazz, Country und Hillbilly – verleibt sich ihrerseits Charakteristika der europäisch geprägten (und auch der indischen) Musik ein. Erst seit „Backporch Hillbilly Blues“ Veröffentlichungen weiß man, wie Minimal Country oder Raga Bluesgrass funktioniert. 1966 spielte er mit seiner kurzlebigen Band The Insurrections – mit Walter de Maria, der auch bei The Primitives, der Vorläuferband von Velvet Underground, trommelte – ein grandios rumpelndes Präpunk-Protestalbum mit dem unzweideutigen Titel „I Don't Wanna“ ein, das erst knapp vierzig Jahre später erscheinen sollte. So blieb zumindest all jenen einiges erspart, die bereits von der Elektrifizierung Bob Dylans nachhaltig geschockt waren.
 
In den 1970er Jahren intensivierte Henry Flynt seine Studien indischer Musik und verfolgte anhand zahlreicher Aufnahmen sein Langzeitprojekt der deutlich dronig-psychedelischer angelegten "New American Ethnic Music". Trotzdem blieb eine Kassette, die in diesem Kontext in den 1980ern von der Galerie Hundertmark produziert wurde, bis zu dem gegenwärtig laufenden Wiederaufnahmeverfahren seine einzige Veröffentlichung. 1975 erschien ein Buch mit einigen frühen Schriften („Blueprint for a Higher Civilization“), und im selben Jahr trommelte er die formidable Combo Nova'Billy zusammen, um das gleichnamige Album einzuspielen. Für Elaborate wie diese wurde das Wörtchen idiosynkratisch erfunden: jazzig-hippiesker Agit-Countryrock, inklusive „Die Internationale“ in einer selten gehörten Version. In jener Phase begann auch seine langjährige Kollaboration mit der Komponistin und Mathematikerin Catherine Christer Hennix, deren in Vergessenheit geratenes Werk „The Electric Harpsichord“ vor wenigen Jahren von dem Mailänder Label Die Schachtel veröffentlicht wurde. Die neuartige Struktur dieses Meilensteins der elektronischen Musik war für Flynt – einer der wenigen, die seinerzeit überhaupt davon Kenntnis nahmen – der Auslöser, um gemeinsam mit Hennix das Genre des Illuminatory Sound Environments (ISE) einzuführen.
Während Ende der 1970er Jahre zwei dieser hochkomplexen, halluzinatorischen ISE-Stücke entstanden (und mittlerweile dank Recorded, einem weiteren verdienstvollen us-amerikanischen Label, zugänglich sind), zog Flynt durch die Straßen New Yorks, um die Graffiti von SAMO© zu dokumentieren und dechiffrieren. Ende der 1980er Jahre tauchte er wieder für ein Weilchen im Kunstbetrieb auf, um anhand einiger Gemälde und Skulpturen die Theorie der "Concept Art" zu illustrieren; er promovierte in Wirtschaftswissenschaften, stellte Schulpsychologie und traditionelle Mathematik in Frage und beschäftigte sich unter anderem ausgiebig mit Erkenntnistheorie – eine straighte Künstlerbiographie sieht gewiss anders aus. Flynts Wirken ist von daher am ehesten mit dem Prinzip der „minor history“, wie sie auch Brandon Joseph seinem Standardwerk „Beyond the Dream Syndicate. Tony Conrad and the Arts after Cage“ (2008) zugrunde legt, beizukommen. Die Verkürzungen zu kontingenten Ouevres weichen bei dieser Form von Geschichtsschreibung, die den Tellerrand Tellerrand sein lässt, den Auffächerungen diskursiver Praktiken. Das Flottieren zwischen den Disziplinen führt zu keinen Panikattacken, und die an den Knotenpunkten der überlieferten Kunst- und Musikgeschichte Auf- und Abtauchenden werden explizit in den Blick genommen. Es finden also all die Nebengeräusche, Grauzonen und Randbereiche Berücksichtigung, die einer Institutionalisierung im traditionellen Sinne nicht gerade zuträglich sind, aber dazu dienen, die überlieferte, gefilterte Historiographie und ihre theoretischen Prämissen nicht als in Stein gemeißelt zu akzeptieren, sondern flüssig zu machen – eine andere Form von Fluxus.
 
(erstmals veröffentlicht in: Spex Nr.340, September/Oktober 2012)

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