Institut für Betrachtung

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Hans-Jürgen Hafner

Was macht eigentlich das Kino?

Eine Rezension des Buches "Jean-Luc Godard. Der permanente Revolutionär" von Bert Rebhandl (Zsolnay, Wien 2020)

Starregisseur der Nouvelle Vague und einer der größten Kino-Innovator:innen (gewesen) zu sein, ist für die Kurator:innen der – allerdings Covid-geplagten – deutschen Filmmuseen und Programmkinos und vor allem die Redaktionen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens offenbar nicht von Belang. Allein der RBB holt zum 90. Geburtstag von Jean-Luc Godard am 3. Dezember einen Klassiker aus dem Keller: Le Mépris, die Verachtung, mit Brigit Bardot und Michel Piccoli in den Hauptrollen als sich voneinander entwöhnendes Paar; dazu Fritz Lang, der sich als von der Filmindustrie desillusionierter Regisseur-Altmeister selbst spielt und Jack Palance als buchstäbliche ‚Fratze’ Hollywoods in der Rolle des egomanen Produzenten. Der starbesetzte, von Carlo Ponti produzierte Film ist vielleicht eine der zugänglicheren Ausnahmen in Godards Werk und dennoch typisch, wenn der Autor ‚Filmemachen’ als technisch/ökonomischen Prozess reflektiert, mithin das Kino als Medium und Thema seines Films hernimmt.

Die Stärke von Godards nunmehr sechseinhalb Dekaden umspannenden Oeuvres ist laut Bert Rebhandl, dass – statt branchenüblich Einzelleistungen aufzureihen – jede Veröffentlichung, vom Film bis hinunter zum Trailer Argument und Facette in einem „fortlaufenden Kommentar“ zur historisch gewordenen Kunst des Kinos wird. Das mache JLG zur „Jahrhundertchiffre“, so Rebhandl. Als erste deutschsprachige Gesamtdarstellung des Werks rekonstruiert er in Jean-Luc Godard. Der permanente Revolutionär selbiges in Engführung mit der Biografie des Filmemachers und öffentlichen Intellektuellen und skizziert seine Entwicklung vom Kritiker der Cahiers de cinéma bis hinein ins kaum bekannte Alterswerk, wie das 3D-Experiment Adieu au langage (2014) und der bildarchäologische Essay Le Livre d’image (2018). Das mag – gemessen an den Standards aktueller Kunstliteratur – methodisch arg konventionell klingen, zumal der Autor ohne viel Theorieeinsatz auskommt. Er rückt stattdessen Werk- und Ereignisgeschichte bis in die allerjüngste Zeit in den Mittelpunkt. Angesichts der Stofffülle kein Wunder, wenn auch der darstellungseffiziente Filmkritiker der FAZ und des Standard auf Buchlänge ein wenig „außer Atem“ kommt. Aus den gleichwohl umfassend informierten Interpretationen einzelner Arbeiten – die ‚kanonischen’ Filme der 1960er und 1980er Jahre, die teils hoffnungslos entlegenen TV- und Videoproduktionen sowie die kollaborativ/kollektiven Arbeiten mit Jean-Pierre Gorin und der Groupe Dziga Vertov aus den 1970er Jahren – als Bausteinen wird dennoch die Architektur eines Oeuvres sichtbar, das sich auch als künstlerischer und politischer Bildungsroman deuten ließe, mit Godard selbst in der Hauptrolle. Dazu passt seine Bezugnahme auf Goethes Wilhelm Meister in La Chinoise (1967), eine teilnehmende Vivisektion des maoistisch inspirierten, revolutionärer gestimmten Student:innenmilieus am Vorabend von ’68.

Seit über vierzig Jahren lebt Godard nun mit seiner Partnerin Anne-Marie Miéville in einer Kleinstadt am Genfer See als eremitischer Forscher und Historiograf der exemplarischen Kunstform des 20. Jahrhunderts. Sein Werk ist – auch aufgrund eingeschränkter Verfügbarkeit in Form einer Handvoll DVDs – beinahe aus der Öffentlichkeit verschwunden, nicht anders wie das Kino als Kulturform und Institution. Umso berührender ist ein aktuelles Interview, das Godard Ende April dieses Jahres schon unter Lockdown-Bedingungen gab und als hochalerter Lebens- und Werkbericht ausgerechnet über die Bildplattform Instagram veröffentlicht wurde. Auf seine Art großes Kino – und in Rebhandls unverzichtbarem Buch en detail diskutiert.

Bert Rebhandl: Jean-Luc Godard. Der permanente Revolutionär, Zsolnay, Wien 2020, 286 Seiten, 25 EUR

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